Ăkos Györffy
Ăkos Györffy (*1976 Ungarn) arbeitet in Budapest in einer Grundschule
für körperbehinderte Kinder. 1996 begann er Gedichte in verschiedenen Zeitschriften und
Anthologien zu ver-öffentlichen.
2000 erschien mit “A Csóványos északi oldala” (Die Nordseite des Csóványos)
sein erster Gedichtband, für den er den Attila-Gérecz-Preis für das beste
lyrische Debüt des Jahres erhielt. 2004 erschien sein zweiter Band mit dem
Titel “Akutagava noteszéből” (Aus Akutagawas Notizblock). Einige Texte aus
diesem zweiten Band waren zuvor bereits in der 100. Ausgabe der österreichischen
Zeitschrift «Lichtungen» erschienen. 2012 erschien der Band „Regungslos“ in deutscher
Übersetzung beim Pop-Verlag.
Julia Schiff (1951), geboren in
Detta/Rumänien. Wurde 1951 mit 11 Jahren zusammen mit den Eltern als
unzuverlässig empfunden an der Schwelle des
von Stalin gegen Tito geplanten Rachefeldzugs für fünf Jahre in die Bărăgansteppe
deportiert. Dipl.-Philologin (Rum./Franz.) und Dipl.-Übersetzerin
(Belletristik) im Sprachendreieck Deutsch/Ungarisch/Rumänisch. Seit 1981
wohnhaft in München. Freischaffende Schriftstellerin, Übersetzerin,
Journalistin, Literaturkritikerin. Zahlreiche Veröffentlichungen in
Literaturzeitschriften im In- und Ausland, 18 Bände, zuletzt Regungslos (Übersetzung aus dem
Ungarischen des Lyrikbandes Nem mozdul
von Ákos Győrffy) Pop Verlag Ludwigsburg, 2012. Verschiedene literarische
Auszeichnungen. Mitglied des Rumänischen Schriftstellerverbandes.
Ákos Győrffy beschreibt in seinem Essay zur BARDINALE, wie fremd und nah ihm Deutschland war und ist:
Die Geburt der Melancholie
Ich stehe auf dem Dach eines
TV-Turmes, das sich langsam im Kreis dreht. Eine der Lehrerinnen beugt sich zu
mir herab und zeigt, dass es dort in der Ferne eine Mauer gibt, und jenseits
der Mauer eine andere Stadt, die eigentlich dieselbe Stadt, und trotzdem eine
andere ist. Ich bin zehn, und diese
Worte sind für ein zehnjähriges Kind nicht auslegbar. Auch heute weiß ich
nicht, warum sie gedacht hatte, dass ich verstehen würde, wovon sie sprach.
Berlin, 1985. Wir wurden für eine Woche zum kampieren in eine Kleinstadt in
Ostdeutschland gebracht. Wir hatten Berlin verlassen, der Bus holperte, weil
die Autobahn aus Betonelementen zusammengesetzt war, und ich hörte, dass der
Fahrer der Lehrerin etwas auf Deutsch sagte. Was hat er gesagt, fragte unser
anderer Begleiter die Lehrerin: Die Lehrerin sagte ihm im Flüsterton, dass der
Fahrer gesagt hatte, dass diese Autobahn der Führer errichten ließ, daher ist
sie noch immer in so gutem Zustand. Ich wusste nicht, wer der Führer war. Ich
dachte, er wäre so etwas wie der türkische Kaiser in den ungarischen Volksmärchen.
Er dürfte gewiss der hiesige Kaiser sein, der so geehrt wird, dass sie sich
seinen Namen nur leise auszusprechen trauen. Ich erinnere mich an einen See, an
den wir jeden Morgen gingen. Dort habe ich schwimmen gelernt. Was eine ziemlich
große Schande für ein Kind ist, der an der Donau groß wurde. In Deutschland
habe ich schwimmen gelernt. Und in Deutschland war ich zum ersten Mal verliebt,
in ein um drei Jahre älteres Mädchen. Ich schaute ihr berückt zu, als sie in
der Lagerdisco auf die Melodie von Wham The
Edge of Heaven tanzte. Ich hatte in Berlin große, leere Flächen zwischen den
Häusern gesehen. Als ob sie riesige, verödete Parkplätze gewesen wären, auf
ihnen wuchs nicht einmal Gras. Ich hatte nicht verstanden, warum es diese
seltsamen toten Plätze in der Stadt gab. Von der Lehrerin erfuhr ich, dass
diese leeren Plätze die der im Krieg vernichteten Wohnblöcke waren, auf die
seitdem nicht mehr gebaut wurde. Der Krieg, jene seltsame Mauer und der Führer.
Ich hatte dieses fremde Land kaum verstanden. Daran aber erinnere ich mich,
dass mich während der dort verbrachten Zeit – des Schwimmens und der Liebe zum
Trotz – auch eine merkwürdige Angst befiel. Ich begann mich vor dem Gewesenen zu fürchten. Diese Furcht
hatte kein konkretes Objekt, sie war eher eine graue und bedrohliche Wolke, die
sich allmählich auf mich gesetzt hatte. Als ob ich im Unterbewusstsein etwas
davon erahnt hätte, was hier um mich herum vor vierzig Jahren ablief. Der große
ungarische Dichter János Pilinszky schrieb, dass das Nachkriegsdeutschland die
perfekte Metapher der vollkommenen Verlassenheit war. Jene einer Welt, der Gott
den Rücken gekehrt hatte. Als ich – zwanzig Jahre später – diese seine Zeilen
las, fiel mir jenes Lager in Ostdeutschland aus der Kindheit ein, und dass ich
dort dasselbe empfunden hatte, nur
dass mit zehn ich außerstande war, dieses Gefühl zu benennen. Diese
Kindheitserinnerung blitzte in mir noch einmal auf: mitten in der Lektüre des
großartigen Romans Austerlitz von
Winfried Georg Sebald. Durch die melancholischen, poetischen Bilder des Romans
hindurch strahlte jener zehnjährige Junge, der ich war. Der etwas vom
Unbenennbaren erahnte, der etwas davon erahnte, das den Protagonist des Romans zum
ein Leben lang währenden Herumirren gezwungen hatte.
Ich könnte sagen, dass im
gewissen Sinne Deutschland mir die Melancholie geschenkt hatte, die Jahre
später dazu führte, dass ich zu schreiben begann. Was gewiss übertrieben ist,
aber ich empfinde es der Übertreibung in der Äußerung zum Trotz als richtig. So
kann ich nichts anderes tun als Deutschland dafür zu danken, dass es in mir die
für mich zum Schreiben unentbehrliche Melancholie eingepflanzt hatte.
Übersetzung: Julia Schiff
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen