Dienstag, September 10, 2013

Akos Györffy und Julia Schiff - Essay und Vita




Ăkos Györffy


 Ăkos Györffy (*1976 Ungarn) arbeitet in Budapest in einer Grundschule für körperbehinderte Kinder. 1996 begann er Gedichte in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien zu ver-öffentlichen. 2000 erschien mit “A Csóványos északi oldala” (Die Nordseite des Csóványos) sein erster Gedichtband, für den er den Attila-Gérecz-Preis für das beste lyrische Debüt des Jahres erhielt. 2004 erschien sein zweiter Band mit dem Titel “Akutagava noteszéből” (Aus Akutagawas Notizblock). Einige Texte aus diesem zweiten Band waren zuvor bereits in der 100. Ausgabe der österreichischen Zeitschrift «Lichtungen» erschienen. 2012 erschien der Band „Regungslos“ in deutscher Übersetzung beim Pop-Verlag.





Julia Schiff (1951), geboren in Detta/Rumänien. Wurde 1951 mit 11 Jahren zusammen mit den Eltern als unzuverlässig empfunden an der Schwelle des von Stalin gegen Tito geplanten Rachefeldzugs für fünf Jahre in die Bărăgansteppe deportiert. Dipl.-Philologin (Rum./Franz.) und Dipl.-Übersetzerin (Belletristik) im Sprachendreieck Deutsch/Ungarisch/Rumänisch. Seit 1981 wohnhaft in München. Freischaffende Schriftstellerin, Übersetzerin, Journalistin, Literaturkritikerin. Zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften im In- und Ausland, 18 Bände, zuletzt Regungslos (Übersetzung aus dem Ungarischen des Lyrikbandes Nem mozdul von Ákos Győrffy) Pop Verlag Ludwigsburg, 2012. Verschiedene literarische Auszeichnungen. Mitglied des Rumänischen Schriftstellerverbandes.

 
Ákos Győrffy beschreibt in seinem Essay zur BARDINALE, wie fremd und nah ihm Deutschland war und ist:



Die Geburt der Melancholie


Ich stehe auf dem Dach eines TV-Turmes, das sich langsam im Kreis dreht. Eine der Lehrerinnen beugt sich zu mir herab und zeigt, dass es dort in der Ferne eine Mauer gibt, und jenseits der Mauer eine andere Stadt, die eigentlich dieselbe Stadt, und trotzdem eine andere  ist. Ich bin zehn, und diese Worte sind für ein zehnjähriges Kind nicht auslegbar. Auch heute weiß ich nicht, warum sie gedacht hatte, dass ich verstehen würde, wovon sie sprach. Berlin, 1985. Wir wurden für eine Woche zum kampieren in eine Kleinstadt in Ostdeutschland gebracht. Wir hatten Berlin verlassen, der Bus holperte, weil die Autobahn aus Betonelementen zusammengesetzt war, und ich hörte, dass der Fahrer der Lehrerin etwas auf Deutsch sagte. Was hat er gesagt, fragte unser anderer Begleiter die Lehrerin: Die Lehrerin sagte ihm im Flüsterton, dass der Fahrer gesagt hatte, dass diese Autobahn der Führer errichten ließ, daher ist sie noch immer in so gutem Zustand. Ich wusste nicht, wer der Führer war. Ich dachte, er wäre so etwas wie der türkische Kaiser in den ungarischen Volksmärchen. Er dürfte gewiss der hiesige Kaiser sein, der so geehrt wird, dass sie sich seinen Namen nur leise auszusprechen trauen. Ich erinnere mich an einen See, an den wir jeden Morgen gingen. Dort habe ich schwimmen gelernt. Was eine ziemlich große Schande für ein Kind ist, der an der Donau groß wurde. In Deutschland habe ich schwimmen gelernt. Und in Deutschland war ich zum ersten Mal verliebt, in ein um drei Jahre älteres Mädchen. Ich schaute ihr berückt zu, als sie in der Lagerdisco auf die Melodie von Wham The Edge of Heaven tanzte. Ich hatte in Berlin große, leere Flächen zwischen den Häusern gesehen. Als ob sie riesige, verödete Parkplätze gewesen wären, auf ihnen wuchs nicht einmal Gras. Ich hatte nicht verstanden, warum es diese seltsamen toten Plätze in der Stadt gab. Von der Lehrerin erfuhr ich, dass diese leeren Plätze die der im Krieg vernichteten Wohnblöcke waren, auf die seitdem nicht mehr gebaut wurde. Der Krieg, jene seltsame Mauer und der Führer. Ich hatte dieses fremde Land kaum verstanden. Daran aber erinnere ich mich, dass mich während der dort verbrachten Zeit – des Schwimmens und der Liebe zum Trotz – auch eine merkwürdige Angst befiel. Ich begann mich vor dem Gewesenen zu fürchten. Diese Furcht hatte kein konkretes Objekt, sie war eher eine graue und bedrohliche Wolke, die sich allmählich auf mich gesetzt hatte. Als ob ich im Unterbewusstsein etwas davon erahnt hätte, was hier um mich herum vor vierzig Jahren ablief. Der große ungarische Dichter János Pilinszky schrieb, dass das Nachkriegsdeutschland die perfekte Metapher der vollkommenen Verlassenheit war. Jene einer Welt, der Gott den Rücken gekehrt hatte. Als ich – zwanzig Jahre später – diese seine Zeilen las, fiel mir jenes Lager in Ostdeutschland aus der Kindheit ein, und dass ich dort dasselbe empfunden hatte, nur dass mit zehn ich außerstande war, dieses Gefühl zu benennen. Diese Kindheitserinnerung blitzte in mir noch einmal auf: mitten in der Lektüre des großartigen Romans Austerlitz von Winfried Georg Sebald. Durch die melancholischen, poetischen Bilder des Romans hindurch strahlte jener zehnjährige Junge, der ich war. Der etwas vom Unbenennbaren erahnte, der etwas davon erahnte, das den Protagonist des Romans zum ein Leben lang währenden Herumirren gezwungen hatte.

Ich könnte sagen, dass im gewissen Sinne Deutschland mir die Melancholie geschenkt hatte, die Jahre später dazu führte, dass ich zu schreiben begann. Was gewiss übertrieben ist, aber ich empfinde es der Übertreibung in der Äußerung zum Trotz als richtig. So kann ich nichts anderes tun als Deutschland dafür zu danken, dass es in mir die für mich zum Schreiben unentbehrliche Melancholie eingepflanzt hatte.

Übersetzung: Julia Schiff

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