Jovan Nikolić
Jovan Nikolić (* 1955, Serbien) wuchs in einer Roma-Siedlung auf.
Erste Veröffentlichung von Gedichten 1977. Zahlreiche Lyrikbände,
Theaterstücke, Libretti und politische Satiren in serbokroatischer Sprache.
Seine Komödie "Die große serbische
Erektion" von 1990 ist Beginn fortgesetzter Kritik an der Politik
Jugoslawiens. Sie führt 1999 ins deutsche Exil und seine neue Heimat Köln.
Beachtung auf deutscher und internationaler Ebene fand er als Koautor des vom
Romatheater Phralipe uraufgeführten Dramas "Kosovo mon amour".
Popularität erlangte der Songtext „Bubamara“ für den Film von Emir Kusturica
"Schwarze Katze - Weißer Kater". Seit 2002 ist er stellver-tretender
Vorsitzender des Internationalen Romani Schriftstellerverbands IRWA. Nikolic
lebt in Köln. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören „Weißer Rabe,
schwarzes Lamm (2006), „Zimmer mit Rad, Gedichte und Prosa“ (2004) „Seelenfänger,
lautlos lärmend. Kurzprosa“ (2011).
Sein Essay schildert auf amüsante Weise familiäre Streitgespräche über Europa.
Übersetzung: Cornelia Marks
Die
gestörten demokratischen Verhältnisse in meiner Familie
Jovan Nikolić
Schon
seit geraumer Zeit erklärte ich meinen Verwandten, dass ich nicht mehr jedes
Mal, wenn ich nach Belgrad komme, um Urlaub zu machen, an unseren Debatten
teilnehmen möchte, sollte Politik das Thema sein. Nach diesen Gesprächen reden
wir mindestens eine Woche lang nicht miteinander. Und dann versöhnen wir uns
eilig, kurz vor meiner Abreise. Das letzte Mal begann es damit, dass mein Vater
nach dem Mittagessen unerwartet verkündete: - Ich glaube an keine Europäische
Union. Denkt ihr etwa, die USA würde die Entstehung noch eines wirtschaftlichen
Gegenspielers erlauben, neben China, Russland und Indien?
Sei
nicht so streng, - meldete sich Mutter zu Wort – das wird zur Entwicklung der
Demokratie und der Solidarität in der Welt beitragen.
Was
für eine Demokratie, zum Teufel – rief Vater aus – für die europäische
Demokratie ist ein europäisches Volk erforderlich, es existiert kein
europäisches Volk, es existieren nur nationale Staaten in Europa.
Gut,
- musste ich mich einmischen – aber es werden die Prinzipien moralischer
Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit weiterentwickelt, dies ist eine der
europäischen Ideen, wenn ich mich nicht irre. Außerdem stellt das Modell der
Europäischen Union eine Sicherheit dar, dass nie mehr europäische Länder gegen
einander Krieg führen werden.
In
der Tat werden sie nicht einander bekriegen, eine Krähe wird der anderen kein
Auge aushacken – schrie Vater mir mitten ins Gesicht – sie führen jetzt
ausschließlich gegen Andere Krieg. Wurde etwa nicht Serbien mit 7 Millionen
Einwohnern wegen eines einzigen Diktatoren bombardiert? Serbien ist ebenso, von
jeher, ein Teil dieses Europas. Und von welchen moralischen Prinzipien ist die
Rede, alle europäischen Regierungen werden von den Banken und den
multinationalen Gesellschaften, ist das klar? Erzähl mir nichts von sozialer
Gerechtigkeit, jetzt, da die Anhäufung des Profits auf Seiten der Elite
stattfindet, und die immer größer werdende Armut des Volkes auf der anderen
Seite ihren Höhepunkt erreicht hat. Weiter geht es nicht mehr.
Da
meldete sich Großvater – In den USA besitzen 400 Leute genauso viele Reichtümer
wie eine Hälfte der Einwohner. Das habe ich in der Zeitung gelesen, ich
erinnere mich weder, in welcher, noch, wann.
Mir
gefällt die Idee trotzdem, dass es keine Visa mehr gibt, dass die Grenzen
verschwinden und eine gemeinsame Währung eingeführt wird – fügte Mutter hinzu.
Die
Europäische Union, wie wir sie bis vor ein-zwei Jahren kannten, gibt es nicht
mehr – schaltete sich auch meine Schwester in die Diskussion ein – sie hat sich
so schnell vor unseren Augen verändert, dass es uns nicht gelang, auch nur
irgend eine ernsthafte Veränderung zu bemerken.
Sehr
interessant – musste ich entgegnen – und wie ist es dir, bei einer solchen
Geschwindigkeit, gelungen, diese Veränderung zu bemerken?
Nun,
schau, ich habe zum ersten Mal die Veränderung in meinem Portemonnaie und
meinem Haushaltsbudget gespürt, nach Europas Finanzwirtschaftskrise, die gewiss
nicht ich verursacht habe!
Natürlich
– fuhr Vater fort – die Krise haben die Bankoligarchen heraufbeschworen,
gemeinsam mit den politischen Eliten. Heute haben die Politiker solche
Privilegien, als ob sie den feudalen Glanz in ihre Augen zurückholten. Und
keiner kann ihnen etwas anhaben.
Na,
sie haben die Polizei und die Armee, die sie vor dem hungrigen und
unzufriedenen Volk schützt – sagte Großvater.
Ihr
zwei könnt das sehen wie ihr wollt, aber ich lebe in Deutschland, in einem
Land, in dem die Wähler die Regierung auswechseln können, in dem sogar der
Präsident ablösbar ist, wenn er gegen die Demokratie- und Gesetzesgrundsätze
verstößt. Außerdem ist die Pressefreiheit beeindruckend, es gibt keine
Unberührbaren, und das Sozial- und Gesundheitssystem verdient ebenfalls jeden
Respekt. Und ich bitte euch, mir nicht jeden Urlaub in Serbien zu vergällen!
Na
dann geh mit deinem pro-europäischen Triumphalismus in dieses dein Deutschland
– schlug Vater mit der Hand auf den Tisch – und vergiss nicht, du bist dort nur
ein Migrant mehr, und das wirst du auch immer bleiben!
Mein
Sohn – versuchte Großvater, die Situation zu beschwichtigen – hast du etwa
nicht verstanden, dass Amerika Europa beeinflusst! Das letzte Mal wurde in den
Zeitungen berichtet, dass Amerika nicht erlauben wird, dass Snowden den
Nobelpreis bekommt. Was ist das für eine Königlich Schwedische Akademie, wenn
Amerika auf sie Einfluss nehmen kann?
So
ist es – freute sich Vater – und ist dir etwa der Einfluss Amerikas auf die
europäischen Länder nicht klar, als auf seinen Befehl hin dem Flugzeug des
Präsidenten Boliviens, Morales, der Überflug über einige europäischen Länder
auf der Reise aus Moskau verweigert wurde, und als es in Wien landete! Hey, sie
haben 13 Stunden lang das Flugzeug des Präsidenten eines souveränen Staates
durchsucht! Und du willst mir etwas von der so genannten freien und
demokratischen Europäischen Union erzählen?!
Sie
haben sich wie amerikanische Vasallen benommen – schlussfolgerte Großvater.
Gut,
ihr zwei – wandte ich mich an Vater und Großvater – bereits entschlossen, den
Tisch und die ganze Diskussion zu verlassen, die mir einseitig und sinnlos
erschien – warum hasst ihr Amerika so sehr, wenn wir doch angeblich über Europa
sprechen?
Da
erhob sich Großvater – weil Amerika ein sündiges Land ist! Sie sind schuldbeladen,
in Farbe: Sie haben Genozid an Völkern anderer Hautfarbe begangen! Die
Rothäutigen haben sie in Reservaten zusammengetrieben, die Schwarzen waren für
sie Sklaven, und auf die Gelbhäutigen haben sie zwei Atombomben geworfen,
siehst du, darum!
Und
vergiss nicht – warf Vater friedlich ein – diese drei Farben sind die Farben
der Flagge deines Deutschlands…
Ich
denke, dass das mehr als böswillig ist, und dass wir nicht mehr weiter polemisieren
sollten – sagte ich, verließ den Esstisch und ging in mein Zimmer.
Außerdem
– fügte ich hinzu, als ich an meinem Vater vorüberging – ist das Gelb auf der
Deutschlandflagge kein Gelb, sondern Gold.
Aus
dem Serbischen von Cornelia Marks
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