Donnerstag, August 22, 2013

Aris Fioretos - Essay und Vita



Du Wasser, du Gänsehaut
Worte zum Roman, zu Europa, zur Zukunft etc.


Aris Fioretos



Liquidität
Es heißt, du seist mitten in Europa entstanden, eine Erfindung des alten Kontinents wie die Demokratie oder der Pockenimpfstoff, oder auch die Daumenschraube und die Biometrie, dein Ursprung sei die mittelalterliche Romanze, doch seit die Zeitungen begonnen hätten, dich in ihren Feuilletons abzudrucken, seist du in den meisten denkbaren Formen aufgetreten, von Familiensagas voller Säbelrasseln und Samowaren bis zu Eigenbrötlern, die sich an gottverlassenen Ufern Steine in den Mund stopfen, ich persönlich träume von dir allerdings als einem Wasser, grenzenlos, und dennoch sammel- und kanalisierbar, ebenso oft schmutziger Meerschaum wie aphrodisisches Putzwasser, denn ich glaube, du kannst die unterschiedlichsten Gestalten annehmen, ohne verloren zu gehen, oder anders gesagt, du enthältst Vielfältiges, wie Wasser in Wasser, und deshalb beschwöre ich dich, der du viele bist, als sei dein Zentrum überall, und als gebe es somit etwas, was dafür sorgt, dass du dir trotz deiner wechselnden Züge gleichst, und ich frage mich, ob diese haltbare Veränderlichkeit, die man auch Liquidität nennen könnte, nicht als dein größter Vorzug betrachtet werden muss, vielleicht ist sie sogar der einzige Grund, weiter an dich als selbständige Erkenntnisform zu glauben, also anzunehmen, dass du auch im Zeitalter medialen Überflusses eine Zukunft hast, und deshalb erlaube mir, mich zu räuspern und zehn, hrm, Gebote in Schlüsselwörtern für die Zukunft vorzuschlagen, geschrieben, wie es sich gehört, auf Wasser – von denen das zweite nach deiner Liquidität laute

Frist
Denn von allem, was du bist, scheint mir der Aufschub am selbstverständlichsten, er sorgt dafür, dass man als Leser allein sein kann, ohne sich einsam fühlen zu müssen, abgeschieden, aber verbunden mit anderen Schicksalen, geschützt und gleichwohl grenzenlos, und ich gestehe, dieses offene Asyl gehört für mich zum Besten an dir, gut möglich, dass es sich sogar als eine Aufenthaltsgenehmigung im staatenlosen Reich der Buchstaben betrachten lässt, im Prinzip für jeden zugänglich, eine dehnbare Dimension, in der die Vergangenheit im Gegensatz zum wirklichen Leben niemals vorbei ist, die Zukunft selten sicher erscheint und die Gegenwart keinesfalls eine einzige ist, so dass die drei Zeitformen gemeinsam ein viertes Tempus bilden, das, so mein Verdacht, dein eigenes sein könnte, und sicher liegt es nahe, es als eine Gnadenfrist jener Art zu betrachten, wie sie die grauhaarige Meisterin deiner Zunft, Scheherazade, erwirkte, als es ihr Nacht für Nacht gelang, das Unvermeidliche aufzuschieben, bis die Verwicklungen so zahlreich, und die Vertraulichkeiten so zuverlässig waren, dass der König kapitulierte und das Todesurteil in eine Hochzeit umwandelte, wodurch sich der Tod, von dem du im Übrigen auch handeln musst, als mit Worten bezwingbar erweist, aber ich bin mir nicht sicher, dass man sich heute noch auf glückliche Enden verlassen kann, jedenfalls nicht, wenn du als eigenständige Erkenntnisform betrachtet werden sollst, außerdem ist eine Frist ja nicht nur der Zeitraum, in dem ein Mensch aufatmet, sondern kann auch ein weitaus weniger befreiender Limbus sein – wie etwa der so genannte „Gewahrsam“, eine Anlage zwischen den Cateringfirmen und Logistikunternehmen am Flughafen Arlanda vor den Toren Stockholms, wo Flüchtlinge darauf warten, „nach Hause fahren zu dürfen“, wie die Behörden es ausdrücken, eine eher beschönigende Umschreibung, denn der Ausgang steht fest, sobald sie dort die Schwelle übertreten haben, weshalb man sagen muss, dass sie letztlich nur auf die Deportation, oder „Rückführung“ warten, wie der offizielle Begriff lautet, was das Heimweh, das als das Grundmotiv in der epischen Tradition gilt, aus der du entstanden bist, als Strafurteil erscheinen lässt, denn wenn es etwas gäbe, wohin sich zurückkehren ließe, zum Beispiel ein Heimatland, hieße dies ja, dass es die Minimalanforderung an ein Zuhause erfüllen würde, folglich in der Lage wäre, sich um seine Bürger zu kümmern.

Kontrast
Aber so ist es nicht und diese Verdrehung der Sprache ist eine Perversion, von der sich kein Idiom freizumachen vermag, nicht ganz, weil es in der Natur der Sprache liegt, nicht nur darzustellen, sondern auch zu entstellen, worüber sie spricht, so dass die Verdrehung als die Kehrseite jener Veränderlichkeit betrachtet werden könnte, in der ich deinen vornehmsten Vorzug sehe, denn nur durch Widersprüche bekommt die Wirklichkeit Kontrast, womit ich übrigens beim dritten Gebot bin, und deshalb meine ich, dass du nicht als ein Medium behandelt werden sollst, mit dem Worte von schmutzigem Gebrauch reingewaschen werden, selbst wenn dies eine noch so noble Aufgabe für Wasser wäre, sondern vielmehr als die Kontrastflüssigkeit, mit der − die politischen oder anderen − Bedingungen für die Verdrehung hervortreten, zum Beispiel die Gründe dafür, dass das Personal im Gewahrsam von „würdevollen“ Rückführungen spricht, womit der Augenblick gemeint ist, in dem ein Flüchtling schließlich „fühlt, dass es okay ist, in sein Heimatland zurückzufahren“, wie es auch heißt, und man die Deportation also endlich als ein gemeinsames Ziel betrachten kann, während es in Wahrheit darum geht, eine rechtliche und rhetorische Situation zu konstruieren, die nur einen Ausgang haben kann, und es sich also nicht um einen Gewahrsam, sondern eher um eine Falle handelt, wenn auch juristisch unbestechlich, in der jede Handlung, die die Bedingungen nicht bestätigt, früher oder später kriminalisiert wird, was übrigens der Grund dafür ist, dass die Behörden Flüchtlingen, die ihren Pass verloren haben, so selten glauben, da eine Person ohne Ausweis nicht ausgewiesen werden kann, zumindest nicht in ihr so genanntes Heimatland, sondern zu dem ersten EU-Staat zurückgeschickt wird, in den sie ihren Fuß setzte – was in den meisten Fällen ein Mitgliedsland am Rande der Union bedeutet, beispielsweise Griechenland oder Spanien, deren Exklaven Melilla und Ceuta in Nordafrika besonders beliebt sind als erstes Ziel für „die“, womit die sogenannten Migranten gemeint sind, was in der Praxis bedeutet, dass die Kernstaaten der Union einen juristischen Wallgraben um sich erschaffen haben, der sie vor Eindringlingen schützt, und damit wäre ich bei der Frage der

Perspektive
An einem Ort wie dem Gewahrsam bildet dieses „die“ den kleinsten gemeinsamen Nenner für die somalischen Mütter und afghanischen Jugendlichen und irakischen Väter und syrischen Kinder und kurdischen Großeltern, die alle darauf warten, zu „fühlen, dass es okay ist, in sein Heimatland zurückzufahren“, und so gezwungen werden, sich in der boshaftesten Art von Nostalgie zu üben, und ich frage mich, ob „die“, die es anderen übrigens ermöglichen, sich „wir“ zu nennen, nicht ein Teil jenes „stillen Gepäcks“ sind, das die Literatur Herta Müller zufolge zum Sprechen bringen soll, denn was bedeutet „die“ denn anderes als eine Nicht-Zugehörigkeit, und demnach eine Unterscheidung zwischen Einheimischen und Fremden, verständlich Gesagtem und barbarischem Gebrabbel oder wie sonst das Verhältnis im Laufe der Jahrhunderte qualvoller Distinktionen formuliert wurde, die wir nur zu gut kennen, und folglich muss jemand, der das stille Gepäck ernsthaft zum Sprechen bringen möchte, die Verantwortung für den Inhalt übernehmen, wenn auch nur in geringem Maße, was wiederum heißt, „die“ werden als „wir“ betrachtet, und sei es auch nur in geringem Maße, und damit ist der Perspektivismus, nach wie vor eines deiner besten Mittel, um widersprüchliche Zusammenhänge darzustellen.

Legion (take one)
Übrigens ist er auch der Grund dafür, dass eine der einfältigeren Ideen der jüngeren Vergangenheit in dem Versuch bestand, „Europa eine Seele zu geben“, was einer der sogenannten Väter der Union als deren wichtigste Aufgabe betrachtete, zumindest bis gewisse Mitgliedsstaaten einen etwas kreativen Umgang mit Subventionen und Steuervorschriften an den Tag legten, „donner une âme à l’Europe“, lautete nämlich der Slogan, mit dem Jacques Delors zu einer kulturellen Konsolidierung des Kontinents aufrief, ein Vorsatz, den er sicherlich ehrlich gemeint hat, jedenfalls war er der Meinung, eine gemeinsame Identität müsse jenseits von Schengener Abkommen und Währungszonen entwickelt werden, sonst drohten Einzelinteressen die Union zu sprengen, aber die Vorgehensweise war mit Verlaub naiv, denn man muss sich nicht nur fragen, ob sich eine „Seele“ verordnen lässt, als handelte es sich um Sparmaßnahmen oder Penicillin, von oben herab, es dürfte wohl auch erlaubt sein, in Frage zu stellen, ob Europa nur eine Seele hat oder nicht eher aus vielen besteht, jedenfalls ist es vielleicht an der Zeit, die Pflege von Vielfalt, und damit von Unterschieden, als Teil des europäischen Erbes zu betrachten, so dass es möglicherweise einfacher wäre, Vorstellungen von einer Seele zu vergessen und stattdessen von Legion zu sprechen, so das fünfte Gebot, und nur weil das Wort selten ein und dasselbe bedeutet, darf es zudem auch das sechste sein.

Legion (take two)
Bekanntlich taucht die Bezeichnung in einer Szene in der Bibel auf, übrigens einer anderen deiner Urquellen, in der Jesus, nachdem er an einem fremden Ufer an Land gegangen ist, einem Mann begegnet, „der seine Wohnung in den Grüften hat“, wo er besessen von einem „unreinen Geist“ sich selbst mit Steinen schlägt und sich „nicht mit einer Kette“ fesseln lässt, kurzum: Wir stehen einem Prachtexemplar eines schwer zu integrierenden Menschen gegenüber, nicht nur selbstzerstörerisch, sondern auch unter den Toten daheim, der auf die Frage nach seinem Namen antwortet: „Legion ist mein Name, denn wir sind viele“, und ich frage mich, ob das nicht das Motto für Europa als literarischer Kontinent sein könnte, jedenfalls muss ich nun ein Geheimnis verraten, da ich den Verdacht hege, dass die Aussage eine Miniversion wenn schon nicht unseres Kontinents, so doch zumindest deines genetischen Codes enthält, denn in dieser Äußerung geschieht etwas nach der Behauptung, aber vor der Schlussfolgerung, es scheint eine Verzerrung im Herzen des Satzes zu geben, wodurch die Person, die anfangs spricht, nicht die ist, die den Satz beendet, weil sich der Sprechende zwischen dem ersten und dem zweiten Gliedvon jemandem, der „mein“ sagen kann, in jemanden verwandelt, der sich „wir“ nennt, und ist es nicht genau das, was du tust, du verwandelst jedes einzelne „ich“ in etwas von einem „wir“, denn als Leser muss man sich in jede einzelne Person versetzen, die zur Sprache kommt, wenn auch nur ein bisschen, und damit erweitert sie sich zu einer Vielzahl, was bedeutet, dass die Verzerrung nicht im Gegensatz zur Veränderung steht, sondern eher mit ihr koexistiert, und in dieser Verwandlung, die ich meine, somit dein Versprechen an den Leser liegt und bedeutet, dass keiner, der bei dir eine Frist sucht, dich als derselbe Mensch verlassen muss, dass es in dieser Verwandlung also eine erschaffende und eine auflösende Kraft gibt, und wenn du nicht bloß der Zerstreuung dienen, sondern eine eigenständige Erkenntnisform sein willst, kannst du dich nicht einfach damit begnügen, mehr oder weniger gut verpackte Bearbeitungen dringlicher sogenannter „Themen“ anzubieten, sondern musst dich von Erwartungen daran freimachen, was du bist oder sein sollst, und stattdessen damit überraschen, was du werden kannst – nichts anderes bedeutet jedenfalls das siebte, woran ich denke, wenn ich an dich denke, nämlich

Das Papierlose
Was eine andere Bezeichnung wäre für „das stille Gepäck“, das du zwischen Buchdeckeln auspackst, zumindest wenn man mit Literatur einen Weg meint, etwas weiter zu gehen, als die Sprache eigentlich erlaubt, und somit eine Erkenntnisform, die sich behauptet, wo Erinnerung und Vernunft nicht genügen, und natürlich ist mir bewusst, dass mit Menschen „ohne Papiere“, also papierlosen Menschen, im Allgemeinen Personen gemeint sind, die ihre Identität nicht mit den dazu erforderlichen Dokumenten nachweisen können oder wollen, was in manchen Teilen Europas zu einem Status geworden ist, der nur einen Atemhauch von den „Vogelfreien“ des Mittelalters entfernt ist, aber dieser Zustand ohne Papiere rührt auch an etwas Wichtiges bei dir, der du entstanden bist, als die Druckerpresse begann, Buchstaben auf Zellulose zu vervielfältigen, denn liegt es nicht in deiner Natur zu versuchen, dir das noch Unbeschriebene einzuverleiben, das in gewissem Sinne nicht legitimierte, vielleicht auch Illegitime, was natürlich nicht heißt, dass diese menschlichen Erfahrungen ungelebt wären, sondern nur, dass sie bislang unformuliert geblieben sind, und ich möchte behaupten, dieser Wunsch, dem Papierlosen Worte zu verleihen, gehört zu deiner Daseinsweise, ja dass du, wenn du dich selber ernst nimmst, mit allen Mitteln auszudrücken anstrebst, was es noch nicht auf Papier gab, und streng genommen kenne ich keinen besseren Grund für deine Existenz.

Vergänglichkeit
Ich gehöre jedenfalls nicht zu denen, die glauben, du seist unsterblich, also eine Ausdrucksform, die für alle Zeit gegeben, bekannt und nicht mehr fortzudenken sei, denn immerhin sind lediglich ein paar hundert Jahre vergangen, seit du deine heutige Gestalt bekamst, und was sagt uns, dass du in dieser Form weiterleben musst, im Gegenteil, ich glaube an deine wassergleiche Fähigkeit, neue Gestalten anzunehmen, dein größter Vorzug bleibt deine Liquidität, und vielleicht sorgt nur das Vertrauen auf sie für dein Überleben, als könne der Glaube an die Vergänglichkeit dich tatsächlich retten, was übrigens mein achtes Gebot wäre, diese Vergänglichkeit, da ich annehme, nur wenn du von ihr ausgehst, hast du dem Leser mehr zu bieten als eine Erzählung und wirst zu einem narrativen Bewusstsein, geräumig genug, um eine heimliche Menschlichkeit zu enthalten, und Hand aufs Herz ist es doch das, worum sich alles dreht, nämlich

Teilnahme
Womit ich bei meinem neunten Gebot wäre, dieser Teilnahme, von der Brecht sprach, als er sich den Menschen nicht als „Individuum“, sondern „Dividuum“ vorstellte, mit anderen Worten nicht als existentielles, sondern soziales Wesen, denn zwar weiß selbst das Personal des Gewahrsams, dass die Rechte eines Menschen universal sind, und er folglich als unantastbar und unteilbar, also als Individuum, behandelt werden muss, aber als soziales Wesen besteht er aus Bindungen, ist er ebenso sehr Atom wie Molekül, und so stelle ich mir ein narratives Bewusstsein vor, als etwas, das zugleich größer und kleiner ist als das Ego, und deshalb immer klüger als sein Urheber, will sagen eine aus Bindungen bestehende Schöpfung, und ich frage mich, ob dies nicht heißt, dass du im Idealfall ein Text sein sollst, bei dem sich das Zentrum überall befindet, zumindest gestehe ich gern, dies wäre mein heimlichster Traum, dieser Text, in dem sich das Zentrum überall befindet, denn nur so erscheint es möglich, der Welt in ihrem verwirrenden Reichtum gerecht zu werden, und auch die Leichtigkeit und Freude in einem Dasein einzufangen, das gleichzeitig eine Hölle ist, Hoffnung ist trotz allem etwas anderes als ein glückliches Ende, und trotz allem geht es ja nicht darum, Personen zum Leben zu erwecken, die man sich ausgedacht hat, sondern darum, Leben in Bewegung zu setzen, doch nun fragt sich der Ordnungsliebende sicher, ob es solche Bücher gebe, oder ob sie zukünftig geschrieben werden, und was weiß ich, vielleicht ist das nur ein papierloser Wunschtraum, aber die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, dürfte wohl immer noch sein, sie zu erfinden, und ich bekenne, dass ich als Leser seit langem einer Prosa überdrüssig bin, die beweist, was wir nicht kennen, aber gleichwohl schon wissen, all dieser wohlerzogenen Erzählungen, lobenswerten Schulaufsätzen ähnelnd, in denen die Themen und Personen ausgetauscht werden, die Konventionen jedoch unverändert bleiben, als wäre in der Epik in den letzten hundert Jahren nichts geschehen, und ich frage mich wirklich, ob es so sein muss, ich begreife nicht, warum du nicht ebenso gut ein Katalog über Atemzüge sein könntest, so einzeln und vergänglich wie liebevoll beschrieben, oder sieben Fälle von Schmerz, verteilt auf achteinhalb Wesen, denn die Pointe muss doch sein, dass die Literatur keine Pyjamaparty ist, bei der unsere gierige Sehnsucht nach bequemer Zusammengehörigkeit das Gespür für Komplikation ersetzt, aber nun höre ich den Ordnungsliebenden ungeduldig mit den Füßen scharren, und na schön, lass mich eine gute Handvoll Titel in ebenso vielen Sprachen nennen, bei denen ich ahne, dass sich das Zentrum überall befindet, lass mich tun, was kein Schriftsteller mit Selbsterhaltungstrieb tun sollte und Herta Müllers Die Atemschaukel, Mircea Cărtărescus Orbitór-Trilogie, Nina Bouraouis Mes mauvaises pensées, Aleksandar Hemons Die Sache mit Bruno, Sara Stridsbergs Traumfabrik und Andrzej Stasiuks Unterwegs nach Babadag nennen, Bücher, die alle seit der Jahrtausendwende erschienen sind und in denen der Leser jeweils einem narrativen Bewusstsein begegnet, das ihn eine Gänsehaut bekommen lässt, es ist, als spreche in diesen Texten Legion, und dann ist es ehrlich gesagt völlig unerheblich, ob sie in ukrainischen Arbeitslagern oder auf den Sofas französische Analytiker spielen, in albanischen Dörfern oder rumänischen Mietskasernen, hier spricht das früher ohne Papier existierende über und zu seinen Bedingungen – und wie wäre es, um endlich zum zehnten zu kommen, woran ich denke, sobald ich an dich denke, wenn man dies als die deutlichste Art betrachten würde, in der die Literatur Evidenz erzeugt, diese

Gänsehaut
Nein, ich meine nicht, dass erzählende Prosa Thesen beweisen soll, noch weniger, dass ihre Aufgabe darin besteht, Wahrheiten zu verkünden, so wichtig sie auch sein mögen, aber wenn sie uns wirklich angeht, vermittelt sie ein Gefühl von Unabweisbarkeit, sie enthält etwas, wogegen wir uns als Leser nicht wehren können, eine Unruhe oder Aufgeregtheit, vielleicht Bestürzung, womöglich Begeisterung, jedenfalls etwas, was einer verheißungsvollen Anomalie gleicht, und wir entdecken, dass wir auf irgendeine verborgene Art zutiefst vertraut mit ihr sind, was unsere Gänsehaut nicht gerade abschwächt, sondern uns entdecken lässt, dass uns keine andere Wahl bleibt, wir müssen sie als Teil unserer Daseinsweise betrachten, als wisse die Literatur tatsächlich mehr über uns als wir selbst, und ich glaube, wenn die Prosakunst in Zukunft relevant sein will, muss sie solche Evidenz erschaffen, mit allen dir zu Gebote stehenden Mitteln, sie muss Gänsehautproduzent werden, denn ist die prickelnde Haut nicht die Entsprechung des Körpers zu einem Text, in dem sich das Zentrum überall befindet, diese unzähligen winzigen Erhebungen, die jede für sich einen eigenständigen Mittelpunkt bilden, was übrigens der Grund dafür ist, dass es bei der Produktion von Sinn in der Literatur niemals um Wachstum, sondern um Überschuss geht, und ich stelle mir vor, dass du nicht weniger als das versprichst, Roman, über den ich die ganze Zeit spreche, als könnte man von dir als von einer Person sprechen, du haarsträubender Überschuss von Bedeutung, und deshalb erlaube ich mir, ein elftes, überzähliges Gebot hinzuzufügen, nämlich

Überraschung
Denn du bist keine sichere „Bleibe“ oder „Unterkunft“, weder „Unterschlupf“ noch „Bauwerk“, was einige der Worte sind, auf die ich stoße, als ich nach Synonymen für „Haus“ suche, und am allerwenigsten eine „Festung“, will sagen eine Konstruktion, deren vordringlichste Aufgabe darin bestünde, vor Eindringen zu schützen, mit anderen Worten den Status quo zu wahren, im Gegenteil, du bist ein seelischer Aggregatzustand, nenne ihn Legion oder narratives Bewusstsein, weshalb du möglicherweise als Kollektivroman ohne Kollektiv betrachtet werden solltest, dennoch wollen es die Umstände, dass ich über dich in Verbindung mit dem „Haus Europa“ nachdenke, aber dieser sprunghaften Litanei lässt sich vermutlich entnehmen, dass ich mir dich nicht als permanent oder uneinnehmbar, abgegrenzt oder exklusiv vorstellen kann, und auch nicht, dass du dich über noch unbekannte, papierlose Gebiete menschlicher Erfahrung erhebst wie der geflügelte Pegasus, der dereinst aus dem Meer entstand, dieses mythische Pferd, das von Poseidon und Medusa gezeugt wurde und traditionell als Symbol für die Dichtkunst gilt, lieber glaube ich, dass du etwas durchaus Bodenständiges und von Menschen Erschaffenes und bereits mitten unter uns bist, als Verheißung oder Fluch, jenem eigentümlichen Gegenstand gleich, eher Flickwerk als Fabelwesen, der eines Tages nach Troja hinein gerollt wurde – ein staubiges Pferd, das mehr enthielt, als irgendwer sich hätte vorstellen können, das zu Traum und Trauma wurde, und ich denke mir, dies könnte dein Totemtier sein, du eigentümliche Verheißung von Erfolg und Zerstörung, du haarsträubende Überraschung, und wenn man bedenkt, dass du im Anbeginn der Sage an der kleinasiatischen Küste standest, wird offensichtlich, dass dein Zentrum nicht in Europa zu liegen braucht, sondern überall sein kann, was dich zugleich bedroht und bedrohlich sein lässt, und deshalb unendlich begehrenswert, was letztlich das einzige ist, was ich eigentlich die ganze Zeit denke, wenn ich an dich denke.

Aus dem Schwedischen von Paul Berf


Anmerkung. Einige Informationen stammen aus Björn Hedlunds Streitschrift Die Mauern des Forts (Stockholm: Atlas, 2012). Herta Müllers Eröffnungsrede bei der Göteborger Buchmesse 2011 trägt den Titel „Das stille Gepäck zum Reden bringen“. Brechts Bemerkungen über den Menschen als „Dividuum“ finden sich in „Marxistische Studien“, Gesammelte Werke (Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1967), Band 20, Seite 60.

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