Du Wasser, du Gänsehaut
Worte zum
Roman, zu Europa, zur Zukunft etc.
Aris Fioretos
Liquidität
Es
heißt, du seist mitten in Europa entstanden, eine Erfindung des alten
Kontinents wie die Demokratie oder der Pockenimpfstoff, oder auch die
Daumenschraube und die Biometrie, dein Ursprung sei die mittelalterliche
Romanze, doch seit die Zeitungen begonnen hätten, dich in ihren Feuilletons
abzudrucken, seist du in den meisten denkbaren Formen aufgetreten, von
Familiensagas voller Säbelrasseln und Samowaren bis zu Eigenbrötlern, die sich
an gottverlassenen Ufern Steine in den Mund stopfen, ich persönlich träume von
dir allerdings als einem Wasser, grenzenlos, und dennoch sammel- und
kanalisierbar, ebenso oft schmutziger Meerschaum wie aphrodisisches Putzwasser,
denn ich glaube, du kannst die unterschiedlichsten Gestalten annehmen, ohne
verloren zu gehen, oder anders gesagt, du enthältst Vielfältiges, wie Wasser in
Wasser, und deshalb beschwöre ich dich, der du viele bist, als sei dein Zentrum
überall, und als gebe es somit etwas, was dafür sorgt, dass du dir trotz deiner
wechselnden Züge gleichst, und ich frage mich, ob diese haltbare
Veränderlichkeit, die man auch Liquidität nennen könnte, nicht als dein größter
Vorzug betrachtet werden muss, vielleicht ist sie sogar der einzige Grund,
weiter an dich als selbständige Erkenntnisform zu glauben, also anzunehmen,
dass du auch im Zeitalter medialen Überflusses eine Zukunft hast, und deshalb
erlaube mir, mich zu räuspern und zehn, hrm, Gebote in Schlüsselwörtern für die
Zukunft vorzuschlagen, geschrieben, wie es sich gehört, auf Wasser – von denen
das zweite nach deiner Liquidität laute
Frist
Denn
von allem, was du bist, scheint mir der Aufschub am selbstverständlichsten, er
sorgt dafür, dass man als Leser allein sein kann, ohne sich einsam fühlen zu
müssen, abgeschieden, aber verbunden mit anderen Schicksalen, geschützt und
gleichwohl grenzenlos, und ich gestehe, dieses offene Asyl gehört für mich zum
Besten an dir, gut möglich, dass es sich sogar als eine Aufenthaltsgenehmigung
im staatenlosen Reich der Buchstaben betrachten lässt, im Prinzip für jeden
zugänglich, eine dehnbare Dimension, in der die Vergangenheit im Gegensatz zum
wirklichen Leben niemals vorbei ist, die Zukunft selten sicher erscheint und
die Gegenwart keinesfalls eine einzige ist, so dass die drei Zeitformen
gemeinsam ein viertes Tempus bilden, das, so mein Verdacht, dein eigenes sein
könnte, und sicher liegt es nahe, es als eine Gnadenfrist jener Art zu
betrachten, wie sie die grauhaarige Meisterin deiner Zunft, Scheherazade,
erwirkte, als es ihr Nacht für Nacht gelang, das Unvermeidliche aufzuschieben,
bis die Verwicklungen so zahlreich, und die Vertraulichkeiten so zuverlässig
waren, dass der König kapitulierte und das Todesurteil in eine Hochzeit umwandelte,
wodurch sich der Tod, von dem du im Übrigen auch handeln musst, als mit Worten
bezwingbar erweist, aber ich bin mir nicht sicher, dass man sich heute noch auf
glückliche Enden verlassen kann, jedenfalls nicht, wenn du als eigenständige
Erkenntnisform betrachtet werden sollst, außerdem ist eine Frist ja nicht nur
der Zeitraum, in dem ein Mensch aufatmet, sondern kann auch ein weitaus weniger
befreiender Limbus sein – wie etwa der so genannte „Gewahrsam“, eine Anlage
zwischen den Cateringfirmen und Logistikunternehmen am Flughafen Arlanda vor
den Toren Stockholms, wo Flüchtlinge darauf warten, „nach Hause fahren zu
dürfen“, wie die Behörden es ausdrücken, eine eher beschönigende Umschreibung,
denn der Ausgang steht fest, sobald sie dort die Schwelle übertreten haben,
weshalb man sagen muss, dass sie letztlich nur auf die Deportation, oder
„Rückführung“ warten, wie der offizielle Begriff lautet, was das Heimweh, das
als das Grundmotiv in der epischen Tradition gilt, aus der du entstanden bist,
als Strafurteil erscheinen lässt, denn wenn es etwas gäbe, wohin sich
zurückkehren ließe, zum Beispiel ein Heimatland, hieße dies ja, dass es die
Minimalanforderung an ein Zuhause erfüllen würde, folglich in der Lage wäre,
sich um seine Bürger zu kümmern.
Kontrast
Aber
so ist es nicht und diese Verdrehung der Sprache ist eine Perversion, von der
sich kein Idiom freizumachen vermag, nicht ganz, weil es in der Natur der
Sprache liegt, nicht nur darzustellen, sondern auch zu entstellen, worüber sie
spricht, so dass die Verdrehung als die Kehrseite jener Veränderlichkeit
betrachtet werden könnte, in der ich deinen vornehmsten Vorzug sehe, denn nur
durch Widersprüche bekommt die Wirklichkeit Kontrast, womit ich übrigens beim
dritten Gebot bin, und deshalb meine ich, dass du nicht als ein Medium
behandelt werden sollst, mit dem Worte von schmutzigem Gebrauch reingewaschen
werden, selbst wenn dies eine noch so noble Aufgabe für Wasser wäre, sondern
vielmehr als die Kontrastflüssigkeit, mit der − die politischen oder anderen −
Bedingungen für die Verdrehung hervortreten, zum Beispiel die Gründe dafür,
dass das Personal im Gewahrsam von „würdevollen“ Rückführungen spricht, womit
der Augenblick gemeint ist, in dem ein Flüchtling schließlich „fühlt, dass es
okay ist, in sein Heimatland zurückzufahren“, wie es auch heißt, und man die
Deportation also endlich als ein gemeinsames Ziel betrachten kann, während es
in Wahrheit darum geht, eine rechtliche und rhetorische Situation zu
konstruieren, die nur einen Ausgang haben kann, und es sich also nicht um einen
Gewahrsam, sondern eher um eine Falle handelt, wenn auch juristisch
unbestechlich, in der jede Handlung, die die Bedingungen nicht bestätigt,
früher oder später kriminalisiert wird, was übrigens der Grund dafür ist, dass
die Behörden Flüchtlingen, die ihren Pass verloren haben, so selten glauben, da
eine Person ohne Ausweis nicht ausgewiesen werden kann, zumindest nicht in ihr
so genanntes Heimatland, sondern zu dem ersten EU-Staat zurückgeschickt wird,
in den sie ihren Fuß setzte – was in den meisten Fällen ein Mitgliedsland am
Rande der Union bedeutet, beispielsweise Griechenland oder Spanien, deren
Exklaven Melilla und Ceuta in Nordafrika besonders beliebt sind als erstes Ziel
für „die“, womit die sogenannten Migranten gemeint sind, was in der Praxis
bedeutet, dass die Kernstaaten der Union einen juristischen Wallgraben um sich
erschaffen haben, der sie vor Eindringlingen schützt, und damit wäre ich bei
der Frage der
Perspektive
An
einem Ort wie dem Gewahrsam bildet dieses „die“ den kleinsten gemeinsamen
Nenner für die somalischen Mütter und afghanischen Jugendlichen und irakischen
Väter und syrischen Kinder und kurdischen Großeltern, die alle darauf warten,
zu „fühlen, dass es okay ist, in sein Heimatland zurückzufahren“, und so
gezwungen werden, sich in der boshaftesten Art von Nostalgie zu üben, und ich
frage mich, ob „die“, die es anderen übrigens ermöglichen, sich „wir“ zu
nennen, nicht ein Teil jenes „stillen Gepäcks“ sind, das die Literatur Herta
Müller zufolge zum Sprechen bringen soll, denn was bedeutet „die“ denn anderes
als eine Nicht-Zugehörigkeit, und demnach eine Unterscheidung zwischen
Einheimischen und Fremden, verständlich Gesagtem und barbarischem Gebrabbel
oder wie sonst das Verhältnis im Laufe der Jahrhunderte qualvoller
Distinktionen formuliert wurde, die wir nur zu gut kennen, und folglich muss
jemand, der das stille Gepäck ernsthaft zum Sprechen bringen möchte, die
Verantwortung für den Inhalt übernehmen, wenn auch nur in geringem Maße, was
wiederum heißt, „die“ werden als „wir“ betrachtet, und sei es auch nur in
geringem Maße, und damit ist der Perspektivismus, nach wie vor eines deiner
besten Mittel, um widersprüchliche Zusammenhänge darzustellen.
Legion (take one)
Übrigens
ist er auch der Grund dafür, dass eine der einfältigeren Ideen der jüngeren
Vergangenheit in dem Versuch bestand, „Europa eine Seele zu geben“, was einer
der sogenannten Väter der Union als deren wichtigste Aufgabe betrachtete,
zumindest bis gewisse Mitgliedsstaaten einen etwas kreativen Umgang mit
Subventionen und Steuervorschriften an den Tag legten, „donner une âme à
l’Europe“, lautete nämlich der Slogan, mit dem Jacques Delors zu einer
kulturellen Konsolidierung des Kontinents aufrief, ein Vorsatz, den er
sicherlich ehrlich gemeint hat, jedenfalls war er der Meinung, eine gemeinsame
Identität müsse jenseits von Schengener Abkommen und Währungszonen entwickelt
werden, sonst drohten Einzelinteressen die Union zu sprengen, aber die
Vorgehensweise war mit Verlaub naiv, denn man muss sich nicht nur fragen, ob
sich eine „Seele“ verordnen lässt, als handelte es sich um Sparmaßnahmen oder
Penicillin, von oben herab, es dürfte wohl auch erlaubt sein, in Frage zu
stellen, ob Europa nur eine Seele hat oder nicht eher aus vielen besteht,
jedenfalls ist es vielleicht an der Zeit, die Pflege von Vielfalt, und damit
von Unterschieden, als Teil des europäischen Erbes zu betrachten, so dass es
möglicherweise einfacher wäre, Vorstellungen von einer Seele zu vergessen und
stattdessen von Legion zu sprechen, so das fünfte Gebot, und nur weil das Wort
selten ein und dasselbe bedeutet, darf es zudem auch das sechste sein.
Legion (take two)
Bekanntlich
taucht die Bezeichnung in einer Szene in der Bibel auf, übrigens einer anderen
deiner Urquellen, in der Jesus, nachdem er an einem fremden Ufer an Land
gegangen ist, einem Mann begegnet, „der seine Wohnung in den Grüften hat“, wo
er besessen von einem „unreinen Geist“ sich selbst mit Steinen schlägt und sich
„nicht mit einer Kette“ fesseln lässt, kurzum: Wir stehen einem Prachtexemplar
eines schwer zu integrierenden Menschen gegenüber, nicht nur
selbstzerstörerisch, sondern auch unter den Toten daheim, der auf die Frage
nach seinem Namen antwortet: „Legion ist mein Name, denn wir sind viele“, und ich
frage mich, ob das nicht das Motto für Europa als literarischer Kontinent sein
könnte, jedenfalls muss ich nun ein Geheimnis verraten, da ich den Verdacht
hege, dass die Aussage eine Miniversion wenn schon nicht unseres Kontinents, so
doch zumindest deines genetischen Codes enthält, denn in dieser Äußerung
geschieht etwas nach der Behauptung, aber vor der Schlussfolgerung, es scheint
eine Verzerrung im Herzen des Satzes zu geben, wodurch die Person, die anfangs
spricht, nicht die ist, die den Satz beendet, weil sich der Sprechende zwischen
dem ersten und dem zweiten Gliedvon jemandem, der „mein“ sagen kann, in
jemanden verwandelt, der sich „wir“ nennt, und ist es nicht genau das, was du
tust, du verwandelst jedes einzelne „ich“ in etwas von einem „wir“, denn als
Leser muss man sich in jede einzelne Person versetzen, die zur Sprache kommt,
wenn auch nur ein bisschen, und damit
erweitert sie sich zu einer Vielzahl, was bedeutet, dass die Verzerrung nicht
im Gegensatz zur Veränderung steht, sondern eher mit ihr koexistiert, und in
dieser Verwandlung, die ich meine, somit dein Versprechen an den Leser liegt
und bedeutet, dass keiner, der bei dir eine Frist sucht, dich als derselbe
Mensch verlassen muss, dass es in dieser Verwandlung also eine erschaffende und
eine auflösende Kraft gibt, und wenn du nicht bloß der Zerstreuung dienen,
sondern eine eigenständige Erkenntnisform sein willst, kannst du dich nicht
einfach damit begnügen, mehr oder weniger gut verpackte Bearbeitungen
dringlicher sogenannter „Themen“ anzubieten, sondern musst dich von Erwartungen
daran freimachen, was du bist oder sein sollst, und stattdessen damit
überraschen, was du werden kannst – nichts anderes bedeutet jedenfalls das
siebte, woran ich denke, wenn ich an dich denke, nämlich
Das Papierlose
Was
eine andere Bezeichnung wäre für „das stille Gepäck“, das du zwischen
Buchdeckeln auspackst, zumindest wenn man mit Literatur einen Weg meint, etwas
weiter zu gehen, als die Sprache eigentlich erlaubt, und somit eine
Erkenntnisform, die sich behauptet, wo Erinnerung und Vernunft nicht genügen,
und natürlich ist mir bewusst, dass mit Menschen „ohne Papiere“, also
papierlosen Menschen, im Allgemeinen Personen gemeint sind, die ihre Identität
nicht mit den dazu erforderlichen Dokumenten nachweisen können oder wollen, was
in manchen Teilen Europas zu einem Status geworden ist, der nur einen Atemhauch
von den „Vogelfreien“ des Mittelalters entfernt ist, aber dieser Zustand ohne
Papiere rührt auch an etwas Wichtiges bei dir, der du entstanden bist, als die
Druckerpresse begann, Buchstaben auf Zellulose zu vervielfältigen, denn liegt
es nicht in deiner Natur zu versuchen, dir das noch Unbeschriebene
einzuverleiben, das in gewissem Sinne nicht legitimierte, vielleicht auch
Illegitime, was natürlich nicht heißt, dass diese menschlichen Erfahrungen
ungelebt wären, sondern nur, dass sie bislang unformuliert geblieben sind, und
ich möchte behaupten, dieser Wunsch, dem Papierlosen Worte zu verleihen, gehört
zu deiner Daseinsweise, ja dass du, wenn du dich selber ernst nimmst, mit allen
Mitteln auszudrücken anstrebst, was es noch nicht auf Papier gab, und streng
genommen kenne ich keinen besseren Grund für deine Existenz.
Vergänglichkeit
Ich
gehöre jedenfalls nicht zu denen, die glauben, du seist unsterblich, also eine
Ausdrucksform, die für alle Zeit gegeben, bekannt und nicht mehr fortzudenken
sei, denn immerhin sind lediglich ein paar hundert Jahre vergangen, seit du
deine heutige Gestalt bekamst, und was sagt uns, dass du in dieser Form
weiterleben musst, im Gegenteil, ich glaube an deine wassergleiche Fähigkeit,
neue Gestalten anzunehmen, dein größter Vorzug bleibt deine Liquidität, und
vielleicht sorgt nur das Vertrauen auf sie für dein Überleben, als könne der
Glaube an die Vergänglichkeit dich tatsächlich retten, was übrigens mein achtes
Gebot wäre, diese Vergänglichkeit, da ich annehme, nur wenn du von ihr
ausgehst, hast du dem Leser mehr zu bieten als eine Erzählung und wirst zu
einem narrativen Bewusstsein, geräumig genug, um eine heimliche Menschlichkeit
zu enthalten, und Hand aufs Herz ist es doch das, worum sich alles dreht,
nämlich
Teilnahme
Womit
ich bei meinem neunten Gebot wäre, dieser Teilnahme, von der Brecht sprach, als
er sich den Menschen nicht als „Individuum“, sondern „Dividuum“ vorstellte, mit
anderen Worten nicht als existentielles, sondern soziales Wesen, denn zwar weiß
selbst das Personal des Gewahrsams, dass die Rechte eines Menschen universal
sind, und er folglich als unantastbar und unteilbar, also als Individuum,
behandelt werden muss, aber als soziales Wesen besteht er aus Bindungen, ist er
ebenso sehr Atom wie Molekül, und so stelle ich mir ein narratives Bewusstsein
vor, als etwas, das zugleich größer und kleiner ist als das Ego, und deshalb
immer klüger als sein Urheber, will sagen eine aus Bindungen bestehende
Schöpfung, und ich frage mich, ob dies nicht heißt, dass du im Idealfall ein
Text sein sollst, bei dem sich das Zentrum überall befindet, zumindest gestehe
ich gern, dies wäre mein heimlichster Traum, dieser Text, in dem sich das
Zentrum überall befindet, denn nur so erscheint es möglich, der Welt in
ihrem verwirrenden Reichtum gerecht zu werden, und auch die Leichtigkeit und
Freude in einem Dasein einzufangen, das gleichzeitig eine Hölle ist, Hoffnung
ist trotz allem etwas anderes als ein glückliches Ende, und trotz allem geht es
ja nicht darum, Personen zum Leben zu erwecken, die man sich ausgedacht hat,
sondern darum, Leben in Bewegung zu setzen, doch nun fragt sich der
Ordnungsliebende sicher, ob es solche Bücher gebe, oder ob sie zukünftig
geschrieben werden, und was weiß ich, vielleicht ist das nur ein papierloser
Wunschtraum, aber die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, dürfte wohl immer
noch sein, sie zu erfinden, und ich bekenne, dass ich als Leser seit langem
einer Prosa überdrüssig bin, die beweist, was wir nicht kennen, aber gleichwohl
schon wissen, all dieser wohlerzogenen Erzählungen, lobenswerten Schulaufsätzen
ähnelnd, in denen die Themen und Personen ausgetauscht werden, die Konventionen
jedoch unverändert bleiben, als wäre in der Epik in den letzten hundert Jahren
nichts geschehen, und ich frage mich wirklich, ob es so sein muss, ich begreife
nicht, warum du nicht ebenso gut ein Katalog über Atemzüge sein könntest, so einzeln
und vergänglich wie liebevoll beschrieben, oder sieben Fälle von Schmerz,
verteilt auf achteinhalb Wesen, denn die Pointe muss doch sein, dass die
Literatur keine Pyjamaparty ist, bei der unsere gierige Sehnsucht nach bequemer
Zusammengehörigkeit das Gespür für Komplikation ersetzt, aber nun höre ich den Ordnungsliebenden
ungeduldig mit den Füßen scharren, und na schön, lass mich eine gute Handvoll
Titel in ebenso vielen Sprachen nennen, bei denen ich ahne, dass sich das
Zentrum überall befindet, lass mich tun, was kein Schriftsteller mit
Selbsterhaltungstrieb tun sollte und Herta Müllers Die Atemschaukel, Mircea Cărtărescus Orbitór-Trilogie, Nina Bouraouis Mes mauvaises pensées, Aleksandar Hemons Die Sache mit Bruno, Sara Stridsbergs Traumfabrik und Andrzej Stasiuks Unterwegs nach Babadag nennen, Bücher, die alle seit der
Jahrtausendwende erschienen sind und in denen der Leser jeweils einem
narrativen Bewusstsein begegnet, das ihn eine Gänsehaut bekommen lässt, es ist,
als spreche in diesen Texten Legion, und dann ist es ehrlich gesagt völlig
unerheblich, ob sie in ukrainischen Arbeitslagern oder auf den Sofas französische
Analytiker spielen, in albanischen Dörfern oder rumänischen Mietskasernen, hier
spricht das früher ohne Papier existierende über
und zu seinen Bedingungen – und
wie wäre es, um endlich zum zehnten zu kommen, woran ich denke, sobald ich an
dich denke, wenn man dies als die deutlichste Art betrachten würde, in der die
Literatur Evidenz erzeugt, diese
Gänsehaut
Nein,
ich meine nicht, dass erzählende Prosa Thesen beweisen soll, noch weniger, dass
ihre Aufgabe darin besteht, Wahrheiten zu verkünden, so wichtig sie auch sein
mögen, aber wenn sie uns wirklich angeht, vermittelt sie ein Gefühl von
Unabweisbarkeit, sie enthält etwas, wogegen wir uns als Leser nicht wehren
können, eine Unruhe oder Aufgeregtheit, vielleicht Bestürzung, womöglich
Begeisterung, jedenfalls etwas, was einer verheißungsvollen Anomalie gleicht,
und wir entdecken, dass wir auf irgendeine verborgene Art zutiefst vertraut mit
ihr sind, was unsere Gänsehaut nicht gerade abschwächt, sondern uns entdecken
lässt, dass uns keine andere Wahl bleibt, wir müssen sie als Teil unserer
Daseinsweise betrachten, als wisse die Literatur tatsächlich mehr über uns als
wir selbst, und ich glaube, wenn die Prosakunst in Zukunft relevant sein will,
muss sie solche Evidenz erschaffen, mit allen dir zu Gebote stehenden Mitteln,
sie muss Gänsehautproduzent werden, denn ist die prickelnde Haut nicht die
Entsprechung des Körpers zu einem Text, in dem sich das Zentrum überall
befindet, diese unzähligen winzigen Erhebungen, die jede für sich einen
eigenständigen Mittelpunkt bilden, was übrigens der Grund dafür ist, dass es
bei der Produktion von Sinn in der Literatur niemals um Wachstum, sondern um
Überschuss geht, und ich stelle mir vor, dass du nicht weniger als das
versprichst, Roman, über den ich die ganze Zeit spreche, als könnte man von dir
als von einer Person sprechen, du haarsträubender Überschuss von Bedeutung, und
deshalb erlaube ich mir, ein elftes, überzähliges Gebot hinzuzufügen, nämlich
Überraschung
Denn
du bist keine sichere „Bleibe“ oder „Unterkunft“, weder „Unterschlupf“ noch
„Bauwerk“, was einige der Worte sind, auf die ich stoße, als ich nach Synonymen
für „Haus“ suche, und am allerwenigsten eine „Festung“, will sagen eine
Konstruktion, deren vordringlichste Aufgabe darin bestünde, vor Eindringen zu
schützen, mit anderen Worten den Status quo zu wahren, im Gegenteil, du bist
ein seelischer Aggregatzustand, nenne ihn Legion oder narratives Bewusstsein,
weshalb du möglicherweise als Kollektivroman ohne Kollektiv betrachtet werden
solltest, dennoch wollen es die Umstände, dass ich über dich in Verbindung mit dem
„Haus Europa“ nachdenke, aber dieser sprunghaften Litanei lässt sich vermutlich
entnehmen, dass ich mir dich nicht als permanent oder uneinnehmbar, abgegrenzt
oder exklusiv vorstellen kann, und auch nicht, dass du dich über noch
unbekannte, papierlose Gebiete menschlicher Erfahrung erhebst wie der
geflügelte Pegasus, der dereinst aus dem Meer entstand, dieses mythische Pferd,
das von Poseidon und Medusa gezeugt wurde und traditionell als Symbol für die
Dichtkunst gilt, lieber glaube ich, dass du etwas durchaus Bodenständiges und
von Menschen Erschaffenes und bereits mitten unter uns bist, als Verheißung
oder Fluch, jenem eigentümlichen Gegenstand gleich, eher Flickwerk als
Fabelwesen, der eines Tages nach Troja hinein gerollt wurde – ein staubiges
Pferd, das mehr enthielt, als irgendwer sich hätte vorstellen können, das zu
Traum und Trauma wurde, und ich denke mir, dies könnte dein Totemtier sein, du
eigentümliche Verheißung von Erfolg und Zerstörung, du haarsträubende
Überraschung, und wenn man bedenkt, dass du im Anbeginn der Sage an der
kleinasiatischen Küste standest, wird offensichtlich, dass dein Zentrum nicht
in Europa zu liegen braucht, sondern überall sein kann, was dich zugleich bedroht
und bedrohlich sein lässt, und deshalb unendlich begehrenswert, was letztlich das
einzige ist, was ich eigentlich die ganze Zeit denke, wenn ich an dich denke.
Aus
dem Schwedischen von Paul Berf
Anmerkung. Einige Informationen stammen aus Björn
Hedlunds Streitschrift Die Mauern des
Forts (Stockholm: Atlas, 2012). Herta Müllers Eröffnungsrede bei der
Göteborger Buchmesse 2011 trägt den Titel „Das stille Gepäck zum Reden
bringen“. Brechts
Bemerkungen über den Menschen als „Dividuum“ finden sich in „Marxistische
Studien“, Gesammelte Werke (Frankfurt
am Main, Suhrkamp, 1967), Band 20, Seite 60.